Gewaltbilder und Desinformation: „Informationskompetenz ist Demokratiekompetenz“ | Digitale Zivilgesellschaft | bpb.de

Gewaltbilder und Desinformation: „Informationskompetenz ist Demokratiekompetenz“ Ein Interview mit Antje vom Berg von klicksafe

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In sozialen Netzwerken gibt es seit dem Überfall der Hamas am 7. Oktober eine Flut von Gewaltdarstellungen und Desinformation aus Nahost. Wie können Lehrkräfte darüber mit ihren Schülern sprechen?

Illustration von zwei Händen, die ein Fernglas halten. Im linken Glas ist eine Sprechblase abgebildet, im rechten Glas ein Browserfenster. Die Illustration ist dunkel-blau. Der Hintergrund ist hell-grün.
Im digitalen Zeitalter nimmt die Relevanz von Nachrichtenkompetenz zu – das zeigt sich besonders in Krisensituationen. (Mel Wilken) Lizenz: cc by-sa/4.0/deed.de

werkstatt.bpb.de: Mit welchen Bildern werden Kinder und Jugendliche im Kontext des Nahostkonflikts aktuell in sozialen Netzwerken konfrontiert?

Antje vom Berg: Es sind sehr extreme und schockierende Kriegs- und auch Gewaltbilder, die in den sozialen Netzwerken zu sehen sind. Es werden explizite und unzensierte Gewaltdarstellungen gezeigt: Wie Menschen verschleppt werden, Frauen vergewaltigt werden, Misshandlungen, Gewalt gegen Minderjährige oder Aufnahmen von verstümmelten oder toten Menschen. Bilder also, die sehr verstörend sein können – für uns alle, aber besonders für Kinder und Jugendliche.

Plattformen wie Instagram, TikTok und YouTube sind zwar eigentlich erst ab 13 bzw. 16 Jahren freigegeben. Es ist aber bekannt, dass schon jüngere Kinder diese Angebote nutzen. TikTok wird zum Beispiel von 50 Prozent der Kinder zwischen sechs und 13 Jahren genutzt. Zur Auflösung der Fußnote[1] Wir sprechen hier also wirklich auch von sehr jungen Kindern, die diese Bilder sehen.

werkstatt.bpb.de: Wie kommt es dazu, dass Kindern und Jugendlichen solche Inhalte angezeigt werden?

A.v.B.: Kinder und Jugendliche suchen gar nicht unbedingt aktiv nach solchen Bildern, sondern sie werden ihnen unvorbereitet in den Feed gespült. Dadurch wird die Schockwirkung noch verstärkt. Das liegt zum Beispiel an der Autoplay-Funktion, die Videos automatisch abspielen lässt und von den Nutzenden häufig nicht deaktiviert wird. Es liegt aber auch daran, dass soziale Netzwerke den Nutzenden Kurzvideos von Accounts zeigen, die sie gar nicht abonniert haben.

werkstatt.bpb.de: Neben diesem sogenannten Graphic Content werden im Netz auch Desinformationen verbreitet.

Foto von Antje vom Berg vor einem türkisen Hintergrund. Sie hat die Hände leicht in die Hosentaschen gesteckt und lacht in die Kamera. Sie trägt eine braune Brille und eine Jacke aus Jeans-Stoff. Sie trägt roten Lippenstift.

Interviewpartnerin Antje vom Berg. (© Landesanstalt für Medien NRW)

A.v.B.: Ja, Falschinformationen sind ein weiteres Problem. Teilweise ist gar nicht klar, ob einige Fotos und Videos den Nahostkonflikt abbilden oder aus einem anderen Zusammenhang stammen. Andere Bilder wurden vielleicht bewusst manipuliert, um die Perspektive der Nutzenden auf den Konflikt und das Kriegsgeschehen zu beeinflussen und um Hass zu schüren. Das sieht man auch in den Kommentarspalten, dass dort gezielt antisemitische und muslimfeindliche Propaganda stattfindet.

Kinder und Jugendliche müssen also sowohl bei der Verarbeitung dieser massiven Bilder unterstützt werden als auch bei der Einordnung des Gesehenen, um Desinformationen enttarnen zu können.

werkstatt.bpb.de: Wie kann diese Reflexion im schulischen Rahmen aussehen?

A.v.B.: Wichtig ist, dass Pädagoginnen und Pädagogen grundsätzlich eine Offenheit signalisieren, als Ansprechperson zur Verfügung zu stehen und Gespräche nicht abzublocken. Es gibt verschiedene Materialien, die Lehrkräfte dabei unterstützen, aktiv mit Schülerinnen und Schülern ins Gespräch zu kommen. Die kann man in den Fachunterricht wie Politik oder Geschichte einbinden, um dort Kriegshintergründe und -strategien zu erläutern oder um zu thematisieren, wie Desinformation und Propaganda funktionieren. Um die Machtlosigkeit und Überforderung der Kinder und Jugendlichen aufzufangen, könnte man zum Beispiel Schritt für Schritt die Meldefunktion einer Plattform oder einer Medienanstalt Zur Auflösung der Fußnote[2] ausprobieren. So könnte man dem Gefühl entgegenwirken, der Bilderflut schutzlos ausgeliefert zu sein. Oder man wählt den kreativen Prozess im Kunstunterricht und malt Friedensbilder, um der Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit zu begegnen.

werkstatt.bpb.de: Inwiefern sollten in diesem Zusammenhang auch die Medien- und Nachrichtennutzung der Jugendlichen Thema sein?

A.v.B.: Hier ist ein wichtiges Stichwort das sogenannte "Doom Scrolling". Bei Kindern und Jugendlichen, aber auch bei Erwachsenen kann das Problem auftauchen, dass sie die Nachrichten immer intensiver verfolgen, immer tiefer in Themen eintauchen, um dem Gefühl des Kontrollverlusts entgegenzuwirken. Das führt dazu, dass sie sich immer mehr negativen Nachrichten aussetzen. Diese Vielzahl an negativen Nachrichten ist es, die Kinder und Jugendliche heute so sehr stresst. Dies kann die Angst noch verstärken. Solche psychologischen Mechanismen sollten mit Jugendlichen besprochen und bearbeitet werden. In einem zweiten Schritt können Lehrkräfte ihren Schülerinnen und Schülern aufzeigen, wie bewusste Nutzungszeiten und Medienpausen zum Selbstschutz beitragen können. Dabei kann auch helfen, bei den Apps, die sehr häufig genutzt werden, Zeitbegrenzungen einzustellen und Push-Meldungen zu deaktivieren. So schütze ich mich selbst vor einer Negativspirale durch eine reduziertere Nachrichtenflut.

Gleichzeitig ist die Zeit im Unterricht auch immer begrenzt, weshalb die Lehrkräfte eine Anschlusskommunikation ermöglichen können, indem sie auf verschiedene Beratungsangebote wie die Externer Link: Nummer gegen Kummer oder Externer Link: FragZebra aufmerksam machen.

werkstatt.bpb.de: Man hört aktuell oft den Satz "Das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit" – Wie können Lehrende ihre Schülerinnen und Schüler dafür sensibilisieren, dass in sozialen Netzwerken auch Propagandamaterial kursiert?

A.v.B.: Informationskompetenz ist Demokratiekompetenz. Das Ziel von Desinformation ist es, die Demokratie zu destabilisieren und politisch zu spalten. Die Akteure, die Desinformation betreiben, teilen die Welt in Gut und Böse, lassen wenig grau und unterschiedliche Perspektiven zu. Daher ist es zentral, die Informationskompetenz der Jugendlichen zu stärken. Und es sollte vermittelt werden, dass man Gewaltinhalte oder Inhalte, die Desinformation sein könnten, auf keinen Fall weiterverbreiten sollte.

Bei Jugendlichen gibt es ein Nachrichtendilemma: Auf der einen Seite bewegen sie sich überwiegend in Social Media und konsumieren kaum noch klassische Medien wie Radio, Fernsehen und Zeitungen. Auf der anderen Seite sagt eine Studie von Safer Internet, dass nur acht Prozent der Befragten soziale Netzwerke für sehr glaubwürdig halten. Zur Auflösung der Fußnote[3] Das heißt: Sie wissen, dass dort viele Informationen geteilt werden, die nicht glaubwürdig sind, aber sie haben keine alternativen Quellen.

werkstatt.bpb.de: Ist es schwieriger mit Schülerinnen und Schülern über den Nahostkonflikt zu sprechen als beispielsweise über die Corona-Pandemie oder die Klimakrise?

A.v.B.: Es ist ein sehr polarisierendes Thema. Da spielen dann auch die Themen Hassrede und Extremismus mit rein. Das macht es noch mal brisanter und aufgeladener. Für Lehrkräfte ist es eine Herausforderung, eine gute Balance zu finden, um die Jugendlichen, die vielleicht selbst persönlich betroffen sind oder sich je nach kulturellem Hintergrund auch persönlich angegriffen fühlen, aufzufangen und die Diskussionen auf der inhaltlichen Ebene zu versachlichen, ohne die Emotionen, die eine Berechtigung haben, auszublenden.

Gleichzeitig muss deutlich gemacht werden, dass Volksverhetzung in Deutschland ein Straftatbestand ist und es dafür keinen Raum gibt. Dabei gilt es immer zu unterscheiden: Was ist Meinungsfreiheit und wo endet sie?

werkstatt.bpb.de: Haben Sie einen Tipp, wie das gelingen kann?

A.v.B.: Man muss es mit der Klasse gemeinsam erarbeiten. Das hat etwas mit dem Aufbau von Demokratiekompetenz zu tun, und die erarbeite ich nicht innerhalb von einer Schulstunde. Die Frage, wie wir im Mikrokosmos Klassenraum miteinander umgehen, hat ja schon ganz viel damit zu tun, wie wir in sozialen Netzwerken und insgesamt mit Menschen kommunizieren. Deswegen ist es schwierig, es mit einem Tipp auf den Punkt zu bringen.

werkstatt.bpb.de: Also geht es nicht nur um die Informationskompetenz, sondern auch um die Diskussionskompetenz?

A.v.B.: Genau, und um die Interaktionskompetenz. Also: Wie trete ich mit meinen Mitmenschen in den Austausch? Respektiere ich andere Meinungen? Wo sind dann auch Grenzen gesetzt, wenn es um Verleumdung und Hassrede geht?

werkstatt.bpb.de: Vielen Dank, Antje vom Berg, für das Gespräch.

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